Lauftext

Quer durch die Worte kommen Reste von Licht. (Franz Kafka)

Liebe Sabrina,

Sie haben wirklich Glück, daß ich im Augenblick mir die Zeit nehmen kann, Ihre Fragen detailliert zu beantworten. Sie hatten mir bisher gar nicht richtig gesagt, wie das ganze Unternehmen sich darstellt, die Verteilung Vortrag/ Ausarbeitung etc.

Mein Gedicht bekommt ja mittlerweile eine Aussagefülle, von der ich selbst allenfalls Ahnungen hatte, denn, wie in meinem heftigen Brief gesagt, der Autor liefert im Normalfall seine Dichtung ab – und fertig. Die Interpretation überläßt er im Regelfall anderen. Sie haben es geschafft, mich zu einer wortreichen Ausnahme zu motivieren. Daß ich soviel anzumerken habe, liegt auch daran, ich betone das noch einmal, das ist wichtig, daß das Gedicht, daß die darin enthaltenen Aussagen klüger sind als ihr Verfasser! Die Sprache ist mit einer uralten Erfahrung und Bedeutung aufgeladen …

Das Gedicht hat, so sehe ich es jetzt, zwei Teile: Die erste und zweite Strophe bilden den ersten Teil, die dritte Strophe ist der zweite Teil. I,1: Charakterisierung des sensiblen, ängstlichen, besorgten, wachsamen Zeitgenossen. I,2: stellt die Frage nach dem Gedicht, stellt das Gedicht als Mittel zur Selbstbefragung vor. II: Antwort eines stellvertretenden lyrischen Ichs, es liefert mutmachende Antworten, stellt das Gedichtelesen in einen größeren Zusammenhang von (seelischen) Schutzmaßnahmen:

Drei Aspekte: A Dunkelheit, B Stille, C Langsamkeit. Das sind nun nicht per se Lebensqualitäten, Dunkelheit kann unheimlich und gefährlich sein; Stille beklemmend, langweilig, todesnah; Langsamkeit: dumm, schwerfällig, alt-modisch, nix los. Alles das weiß das Gedicht auch. Und nun will es (dialektisch) die positiven Seiten dieser drei Aspekte klarmachen:

A Rettung der Würde des Individuums, Bewahrung der Anonymität, aber auch ganz konkrete Dunkelheit, also dagegen sein, daß die Nacht zum Tage gemacht wird.

B: Ermunterung zu meditativer innerer Einkehr, zur Suche nach dem (göttlichen) Geheimnis, jedenfalls zu einer seelischen Balance, Lauschen auf die leisen Töne.

C: Verringerung des Lebenstempos, weniger ist mehr. Den Romantitel „Entdeckung der Langsamkeit“, Nadolny, 1983, hatte ich schon erwähnt? Da war aber mein Gedicht schon geschrieben.

Tja, es ist schon ein sehr moralisches Gedicht, das Partei ergreift zugunsten jener Empfindlichen und „Ängstlichen“ – Angst hat eine wichtige Schutzfunktion. Noch etwas zur Formbetrachtung: I,1 läßt die Zeilen mit verallgemeinernden Relativpronomen beginnen, wer, wen ..., II kommt dann über das (lyrische) Ich zum WIR, gestaltet also eine „Komplizenschaft“ dieser „stillen“ Opposition gegen den Zeitgeist.

Zu den konkreten Fragen:

8/9 Auch diese Zeilen haben den „doppelten Boden“. Zunächst handelt es sich um eine Anspielung auf die realen Dunkelkammern von Leuten, die Fotos entwickeln, übertragen sind Dunkelmänner gemeint, die irgendwas Verschwörerisch-Böses aushecken (z.B. die sog. Schläfer, also Terroristen in Wartestellung), bloß, liebe Sabrina, das sind jetzt meine Assoziationen, jetzt, heute, der Leser kann da einsetzen, was er will …). Die langjährige Angstzeit ist die Lebenszeit; Bedrohung, Unsicherheit wird es immer geben.

39 datenlos: nicht von Daten erfaßt, gespeichert, nicht gläserner Bürger sein, ich sprach ja schon mal von dem Film „1984“. Datenlos: natürlich auch als Wortspiel mit „tatenlos“, tatenlos soll der Empfindsame natürlich nicht sein, er kann auch demonstrieren gehen, z.B., aber, das will das Gedicht (im verborgenen) auch sagen: Gedichte sind auch Taten, ein Gedicht zu lesen ist eine Tat, ein schönes Gedicht auswendigzulernen ist eine friendenstiftende Tat, ein Gedicht so zu analysieren, daß es die schlummernden Geisteskräfte entfacht und den Sinn für Sprachschönheit und Sprachtiefe schärft: eine Großtat.

Am Ende aber, bedenken Sie noch einmal die eingerückte vorletzte Zeile, die Lücke als Ausdruck des Unsichtbaren, des Schweigens, verstummt auch das Gedicht.

Von dem Philosophen Wittgenstein gibt es am Ende seiner bekanntesten Schrift den Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ Wenn Sie einen gebildeten Lehrer haben, wird er den Satz kennen. Alles Reden (und Schreiben) ist nur eine Unterbrechung des uns umfassenden Schweigens.

Herzliche Grüße

H.F.

 

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