Liebe Sabrina S.,
wie schön, daß sich der Deutschlehrer beeindrucken läßt … Was diesen Unterricht betrifft, so verstehe ich gar nicht, daß Sie mit solchen grundsätzlichen Themen wie „Epochenaspekte“ allein gelassen sind. Gerade zur Lyrik existieren Unmengen an Darstellungen, auch von den Dichtern selbst (in: Walter Höllerer: Theorie der modernen Lyrik, z.B.). Nur muß man erst mal definieren, was Gegenwart bedeutet. Wenn es sich um die Moderne handelt, so ist ihr Beginn um 1900 anzusetzen; oder aber: die Nachkriegszeit, also 1945 bis heute. Aus den 50er, 60er Jahren ist da vor allem der dunkle, schwierige, mittlerweile aber gutinterpretierte Paul Celan zu nennen, auch eine Handvoll Gedichte von Ingeborg Bachmann, in den 70er Jahren innovativ Rolf Dieter Brinkmann, Ernst Jandl gewiß, aber ich will hier ja nicht die paar Namen aufzählen, sondern insgesamt sagen: Merkmal dieser Nachkriegsgegenwart, die ich ja nun überschauen kann, ist: sie ist literarisch enttäuschend, verglichen mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Der Anteil der aktuell erfolgreichen und talentierten Autorinnen ist gestiegen, da haben Sie recht. Ich sehe aber kaum ein Werk, dem man Haltbarkeit vorhersagen kann. Was den anderen von Ihnen genannten Aspekt angeht, die diffuse Vielfalt literarischer Strömungen, so liegt dies vermutlich an dem fehlenden zeitlichen Abstand, der uns eine genaue Kennzeichnung schwermacht. Aber zur Lyrik läßt sich das präziser sagen. 1950-68: hermetische, dunkle, chiffrierte Lyrik, absolute Metaphern; bis 1989: politisch-engagierte Texte, zum Teil formlose, sich als Lyrik tarnende zerhackte Prosa, leicht verständlich, spontan, pointiert, offen, den Alltag einbeziehend, wort-spielerisch, jokes; seither bis heute: einerseits Rückkehr zu formaler Strenge mit Reimen, Versmaß etc., manchmal milde versteckt als Binnenreim, Beispiel: Ulla Hahn, Robert Gernhardt, traditionsbewußt gebildet, witzig; andererseits: hochartifizielle, assoziative, subtil durchkomponierte lyrische Gebilde, „elaborierter Code“, experimentell, fragmentarisch, wieder verrätselnd, mit der Zumutung an den Leser, sich mit dieser intellektuellen Sprachwelt, z.B. von Friederike Mayröcker oder Thomas Kling, auseinanderzusetzen.
Ein typisches Merkmal des zeitgenössischen Gedichts ist das selbstreflexive Moment, d. h. das Gedicht denkt über sich selbst nach, es thematisiert sich und seinen Schritt in die Öffentlichkeit selbst, was ja auch in Klartext vorkommt, so in der zweiten Strophe, die als rhetorische Frage zu lesen ist; die Antwort JA liegt auf der Hand. Zudem, darüber habe ich mich ja schon früher geäußert, bezieht sich Klartext auf die dunklen Gedichte in den 50ern. Das Fachwort für diese Dunkelheit ist, wie gesagt: hermetisch.
Zur Moderne des Dichtens gehört das unbedingte Sich-Einlassen auf die Sprache, kein Thema, keine Mission, keine Botschaft außer der: über die gestaltete Sprache einen eigenen Ton in die Welt setzen, das Nichterkennen eines tieferen Lebenssinns überspielen und dessen Verborgenheit im dichterischen Wort aushalten.
So, das habe ich vielleicht allzu großartig ausgedrückt; mein Klartext hat daher Mühe, neben solchen erhabenen programmatischen Bekenntnissen zu bestehen …
Zu ihrer Frage nach den Frühgottesdienstbesuchern: Die vierte Zeile wen die Dunkelziffer steigert durch das Enjambement die Erwartung, das Wort Dunkelziffer läßt evtl. kriminelle Fakten, irgendwas Schlimmes erwarten: die Banalität der ausbleibenden Gottesdienstbesucher, um 8 Uhr sind’s eh nur ein halbes Dutzend, löst diese Spannung ironisch auf. Immerhin: es handelt sich um eine (religiöse, fromm schweigende, betende) Minderheit, die mit der später erwähnten schreienden Mehrheit korrespondiert. Skepsis als Aussage meines Gedichts vor Massenwahn, vor BegeisterungsTAUMEL. Die dann angesprochenen Lebens-Ängste (in: Angstzeit) gehören heutzutage zur gesellschaftlichen Normalität; da gibt’s wohl einen Zusammenhang: leere Kirchen, volle Praxen der Psychotherapeuten. Aber auch, füge ich als Poet hinzu, neue Chancen für die Kunst, für die Literatur, die möglicherweise einen Religionsersatz darstellt.
Soviel für heute. Es freut mich, daß Sie meine Camus-Biographie wie einen Roman lesen …
Herzlich grüßt
Heiner Feldhoff