Liebe Sabrina S.,
oh, der Tonfall Ihrer Fragen wird deutlich inquisitorischer. Als gingen Sie nach der anfänglichen Sympathie für das Gedicht allmählich auf kritische Distanz. Na gut, doch bedenken Sie dabei bitte, daß der gemeine Lyriker mit einem äußerst sensiblen Gemüt ausgestattet ist. Wie könnte er auch sonst Gedichte schreiben … Das Zerpflücken von Gedichten ist tatsächlich nicht ohne Risiko, besonders ein schulisch gelenktes. Sie sollten zu diesem Thema einmal Enzensberger lesen. Die genaue Quelle hab ich grad nicht parat, bin auf Reisen, bin in Hamburg. Nun der Reihe nach zu ihren Fragen.
Klartext habe ich zuerst in meinem Gedichtband „Wiederbelebungsversuche“ veröffentlicht (1980), dann noch einmal in „Als wir einmal Äpfel pflücken wollten“ (1985).
Als nächstes erbitten Sie von mir allen Ernstes eine praktikable griffige Interpretationsformel zu Klartext. Und nennen mir Beispiele, bei denen das so prima geklappt hat. Seien Sie froh, daß wir hier so stille Post betreiben, ich hätte mich, säßen wir uns gegenüber, lautstark empört. Wie kann man denn vom Dichter ein abstraktes Resümee erwarten, der sich doch bemüht hat, eben dies zu vermeiden: die Reduzierung auf tote Formeln, auf eine bequem rubrizierbare Nutzanwendung, Vitamintabletten statt frischen Obstes. Gott sei Dank weiß ich ja, daß Sie selbst sich eigener Verständnismühe unterziehen. Seufzend will ich Ihnen trotzdem etwas in der Richtung Ihrer provokativen Frage sagen, obwohl ich am liebsten so reagieren würde wie nicht wenige meiner Kollegen: Was ich zu sagen habe, habe ich gesagt – im Gedicht. Der Gedichteschreiber stellt sich keine thematische Aufgabe, sondern, da er in der Sprache zu Hause ist, geht von einem sprachlichen Impuls aus, die Sprache ist ja viel klüger als er, viel älter und erfahrener, der ernstzunehmende Dichter vertraut sich ihr an. Und wenn die gute Stunde da ist, wird ihm ein Reizwort, ein Stimmungswort, eine erste Zeile „geschenkt“. Erst dann beginnt die Arbeit, die bewußte Gestaltung, die Verdichtung der Assoziationen und Bilder.
Was bei Klartext der Auslöser war, weiß ich nicht mehr, wie überhaupt alles, was ich hier zum Text sage – aber zumeist weiche ich ja aus – nachgetragene Überlegungen sind. Also: das Gedicht Klartext plädiert für die Bewahrung des Geheimnisses, das jedem einzelnen Menschen innewohnt, und macht dies deutlich, indem es zum Beispiel zur Verlangsamung des Lebenstempos aufruft, zur Stille, und eben zu mehr Dunkelheit.
Als ich in Ihrem Alter war, blickten wir mit seltsamer Beklommenheit auf das ferne Jahr 1984, von dem Orwell in seinem Zukunftsroman erzählt: Big brother is watching you … Und heute: Datenerfassung, Satellitenüberwachung u.v.a.: mein Plädoyer für die Nutzung von „Verdunkelungschancen“ ist in diesem Punkt doch gewiß nachvollziehbar.
Was ich mit Geheimnis meine, berührt auch eine religiöse Dimension, ich sprach wohl schon einmal davon. Dies führt auch zu Ihrer Frage nach dem Einschub wer das auch sei. Zeile 1 spricht ja schon von der Furcht, in 24 heißt es im biblischen Ton: Fürchtet euch nicht. Mein Einschub soll das Pathos dieser himmlischen Botschaft selbstironisch aufheben, nichts weiter. Himmelsboten werden ja heute immer weniger gehört, die Kunst übernimmt mehr und mehr spirituelle Missionsaufgaben.
Zum Geheimnis läßt sich naturgemäß nichts Plakatives sagen. Es läßt sich aber indirekt erfahren, durch das Studium von Weisheitsbüchern (zu denen auch „Walden oder Leben in den Wäldern“ meines H.D. Thoreau gehört), durch meditatives Schweigen, in der Liebe, in Kunst und Religion, wie oben angesprochen. Lichtgeschwindigkeit: damals herrschte Hochkonjunktur, Konsumrausch; restdeutsch: alte BRD (neben DDR und den heute polnischen Gebieten); Non-Stop…: Beispiel für den damals beginnenden Einzug englischer Wörter in die Alltagsökonomie.
So wichtig es auch ist, daß Sie handwerklich ausgerüstet sind mit einem gutbestückten Instrumentarium, zur Analyse poetischer Texte: prüfen Sie, ob da eine lebendige Stimme ist, ob da jene rätselhafte Stimme sich andeutet, vor der eine letztgültige Antwort ausbleiben muß.
Die versprochen Büchersendung geht Anfang kommender Woche, wenn ich wieder zu Hause bin, an Sie ab.
Da ich annehme, daß wir mit unserer Korrespondenz noch nicht am Ende sind, sage ich:
Bis bald
und mit besten Grüßen
Heiner Feldhoff