Liebe Sabrina S.,
wie versprochen, schreibe ich Ihnen gerne den einen oder anderen Gedanken auf, wie er mir heute morgen zu Klartext in den Sinn kommt. Wohlgemerkt, ich versuche aber nicht zu rekonstruieren, was vor vielen Jahren meine Schreibfeder bewegt hat.
Mein Gedicht kreist um das Thema Helligkeit-Dunkelheit. Äußerlich beklagt es z.B. die Lichtverschmutzung, ein Zivilisationsschaden, der jetzt mehr und mehr als solcher erkannt wird – die Lärmbelästigung wird da schon erfolgreicher bekämpft. Goethe hat Mehr Licht! ausgerufen, heute müßte es heißen: Weniger Licht! Aber natürlich meinte er: Mehr Erkenntnis! Mehr metaphysische Gewißheit!
In diesem Sinne ironisiert der Titel Klartext das gesellschaftsengagierte Schreiben der 70er/80er Jahre: damals waren dunkle Gedichte, die als Geistesrätsel zu knacken waren, deren absolute Metaphern, z.B. bei Celan, sich nur bei intensivster werkimmanenter Beschäftigung erschlossen, in den Feuilletons der kritischen Intelligenz nicht mehr gefragt, die schöne Literatur war quasi abgeschafft, Gereimtes galt als idyllisch und vorgestrig, und im übrigen ging es nicht um schöngeistige Ruhigstellung, sondern um Veränderung der Gesellschaft.
Mein Gedicht plädiert dagegen – beinahe anti-aufklärerisch –, wenn auch im Stil der Zeit, also nicht in metrisch gebundenen Versen, für den Mut zur Dunkelheit und thematisiert vor allem altmodische Tugenden wie den kirchlich geprägten Glauben, das Auswendiglernen von Gedichten, den Schutz des Privaten dank Anonymität. Die religiöse Thematik ist durchgängig: Fürchtet euch nicht: erinnert an Lukas 2. Stille in unserem Land ruft die „Stillen im Lande“ in Erinnerung, früher Pietisten genannt, fromme, gottergebene Bürger. Nonstop etc.: eine moderne Vokabel, die den Kontrast zur „Geheimniskrämerei“ hervorhebt.
Formale Mittel sind Wortspiele (Angstzeit/Amtszeit; Satz um Satz/Umsatz; schreiende/schweigende Mehrheit), syntaktisch ein langer Satzatem. Pointiertes Einrücken der vorletzten Zeile, so daß ein Freiraum entsteht, der das „Verborgene“ andeutet.
Im ersten Brief hatte ich den Vietnamkrieg erwähnt. Als weitere zeitgenössische Katastrophe muß Tschnernobyl genannt werden. Mein Gedicht gab es ja damals schon einige Jahre, doch nach Tschernobyl war es problematisch geworden, einige Begriffe wie Entsorgung und Strahlkraft bekamen einen anderen Klang. Und Aufklärung tat wieder not!
Nach der Tsunami-Katastrophe kann man vorerst auch nicht mehr leichtfertig ein heiteres Meeresgedicht schreiben oder lesen ...
Zu Ihrer Frage nach dem Metrum: tatsächlich, es gibt keines. Also ist es zerhackte Prosa? Nun, ich habe ja erläutert, was das Gedicht sprachlich und thematisch zusammenhält, Reim, Rhythmus, Metrum sind ihrerseits nur einige von vielen Mitteln, wenn auch die populärsten. Sie haben aber recht: wenn es ein Gedicht sein soll, muß der Zeilenbruch einen Sinn haben. Jede Zeile muß ihre Aussageberechtigung haben: Die erste Zeile benennt das Angstthema, die zweite wird präziser, legt aber eine falsche Fährte (Einbruch), usw., jede Zeile kann aus klanglichen oder inhaltlichen Gründen ihre Einzelstellung verantworten.
Nun sei es aber für heute genug. Interpretationen laufen ja immer Gefahr, das, was sie erhellen wollen, geschwätzig-besserwisserisch wieder zu verdunkeln. Ich hoffe, dies ist mit meinen Briefworten nicht geschehen.
Freundliche Grüße
von Heiner Feldhoff