Lauftext

Quer durch die Worte kommen Reste von Licht. (Franz Kafka)

 Walden oder Leben in den Wäldern

 Henry David Thoreau zählt zu der Minderheit von Menschen, die sich mit der Welt, so wie sie ist, nicht von vornherein arrangieren, sondern sich erlauben, Fragen zu stellen: ein Unangepaßter, ein Oppositioneller, ein geborener Protestant. Viele seiner paradoxen Aussagen hat man als rhetorische Tricks entlarven wollen (auch Emerson beklagte ja dieses Verfahren), aber nicht wenige Maximen hat Thoreau in die Tat umgesetzt. Das biblische Gebot: »Sechs Tage sollst du arbeiten ...« kehrte er einfach um! Tatsächlich reichte ihm ein Tag fremdbestimmter Gelegenheitsarbeit pro Woche, genügten ihm dreißig bis vierzig Arbeitstage im Jahr; im übrigen nahm er sich »das Leben«, nahm er sich seine Zeit, ließ sie sich nicht von den Herrgöttern Ehrgeiz, Machtstreben, Gewinnsucht stehlen.

»Mit Bedacht« hatte Thoreau - er war jetzt achtundzwanzig Jahre alt - den Zeitpunkt seines Umzugs gewählt: 4. Juli, Tag der Unabhängigkeit.

Reformen, Veränderungen müssen konkret beim einzelnen anfangen, gesellschaftliche Großkampagnen sind erfolglos, so seine Überzeugung. In aller Ruhe hatte sich Thoreau in der ersten Jahreshälfte 1845, bloß zwei Meilen von Concord entfernt, am Waldensee eine Blockhütte errichtet. Das Grundstück gehörte Emerson, der es erworben hatte, um einen schönen Waldbestand vor profitabler Rodung zu retten.

Gut zwei Jahre sollte Thoreau hier verbringen. Endlich kam er dazu, die Reise mit seinem Bruder (damals auf den Flüssen) zu Papier zu bringen. Rund um die Uhr - falsch: er ließ sich ja seine Zeit nicht durch das Ticken einer Uhr »zernagen« -konnte er Tage- und Nachtbücher mit Beobachtungen und Einsichten füllen.

Für viele Menschen in unserem Jahrhundert - das vorherige nahm nur geringe Notiz von diesem amerikanischen Diogenes - ist sein erst sieben Jahre nach dem Hüttenaufenthalt erschienenes Hauptwerk Waiden oder Leben in den Wäldern eine Quelle geistiger Erneuerung und Besinnung geworden. Dieses lebensbejahende, die »stille Verzweiflung« und Resignation der meisten Menschen bekämpfende Buch, das voll unbequemer Wahrheiten steckt und im Grunde doch so menschenfreundlich ist, muß man gelesen haben - ich scheue diese abgenutzte Empfehlungsformel nicht!

Allerdings, so Thoreau, hat er das Buch nicht für kräftige, selbstbewußte Naturen geschrieben, nicht für die, die genau wissen, was sie zur Zeit tun, vielleicht sogar an der Gegenwart mit Zärtlichkeit und Liebe Anteil nehmen (zu denen rechnete sich Thoreau selbst!), sondern:

»Nur zu der Masse jener Menschen spreche ich, die unzufrieden sind und sich vergeblich über die Härte des Schicksals oder der Zeiten beklagen, während sie beides doch verbessern könnten... Ferner denke ich an die scheinbar wohlhabende, aber im Grunde allerärmste Gruppe unter uns: die bemitleidenswerten Menschen, welche teuersten Plunder angehäuft haben und nicht wissen, wie sie ihn gebrauchen oder wieder loswerden sollen, und die sich damit selbst ihre goldenen oder silbernen Ketten schmiedeten.«

Der Walden-Wohnsitz war durchaus ein fester, auch war Thoreau nicht von der Außenwelt abgeschnitten: Die Dampfeisenbahn keuchte und pfiff in unmittelbarer Nähe vorüber, die Landstraße Lincoln - Concord war in Sichtweite; Freunde, Farmer, Neugierige kamen häufig zu Besuch, und er selbst ging regelmäßig, meist über die Bahngeleise, heim ins Städtchen, nahm weiterhin die großzügigen Einladungen Emersons zum Dinner an und aß Mutter Cynthias famose Apfeltorte.

Auch der Weise, so hatte schon Diogenes gelehrt, ißt Kuchen, wenn er ihn nur ebensogut entbehren kann. Einmal unterbrach Thoreau sein »Experiment« sogar für eine vierzehntägige Reise in die Wälder von Maine.

Viele Trapper, Jäger und Freibeuter an der Grenze hatten damals gewiß mehr Abenteuer zu bestehen. Diese »wandernde« Grenze war der jeweils äußerste besiedelte Westen; erst 1890 war die Ost-West-Verbindung lückenlos. Grenzer waren jene zähen, unabhängigen Gestalten, die in ihrem Freiheitsdrang mit der Aussicht auf spottbilligen Bodenbesitz (1 3/4 Dollar pro Morgen; später gar kostenlos) im Umgang mit den Indianern, das heißt bei ihrer gnadenlosen, zumeist illegalen Vertreibung, aber auch untereinander nicht zimperlich waren; es herrschte das rücksichtslose Gesetz des Stärkeren, Schlaueren, Schnelleren  und dies besonders kraß, als mit Goldfunden eine neue »Grenzsituation« eintrat.

Massachusetts war dagegen kaum mehr eine unerschlossene Wildnis - Thoreau beteiligte sich ja selbst an dieser Kultivierung und »Eingemeindung«, seine sichere Einschätzung von Entfernungen, sein intuitiver Sinn für Maß und Zahl machten ihn zu einem begehrten Landvermesser.

Thoreau war, was Walden angeht, nicht etwa der ganz andere, der Alternative, der wie ein Exot angestarrt wurde; er war ein Yankee wie die anderen auch, ein ganzer Kerl, der sein Schicksal selbst bestimmte, der sich in (allerdings freiwilliger) Genügsamkeit, ausgestattet mit dem Notwendigsten (einem Messer, einer-  geliehenen! - Axt), in der Natur zu behaupten, ja, sie auf seiner Seite wußte. An den heiligen Franz erinnert es uns, wenn wir von Thoreaus persönlichem Verhältnis zu den Pflanzen und Tieren lesen; dem stundenlang ausharrenden Beobachter näherten sich Bisamratten, Eichhörnchen und Falken schließlich voller Zutrauen; Fische schwammen ihm in die Hand.

Besonders die Murmeltiere taten's ihm an - er akzeptierte ihre älteren Wohnrechte, aber als sie es gar zu toll trieben und sein Bohnenfeld ruinierten, wehrte er sich in bemerkenswerter Eskalation. Zunächst fing er den Sippenältesten in einer Falle erteilte ihm eine strenge Lektion - und ließ ihn wieder frei. Als diese Maßnahme nichts fruchtete, stellte er ihm erneut eine Falle und verschleppte ihn zwei Meilen weiter. Keine Lösung fürwahr, sondern individuelle Verlagerung des Problems. Wahrscheinlich machte der Farmer in jener Gegend mit dem nimmersatten Vertriebenen kurzen Prozeß; Thoreau freilich hatte seit langem das Gewehr (und auch die Angelrute) beiseite gelegt.

Einmal ließ er sich dann doch zu blutiger Rache hinreißen, schlachtete das Murmeltier, das sein Bohnenfeld verwüstet hatte, und verspeiste es, trotz seines moschusartigen Geschmacks, mit großem Genuß.

Seine Nahrung bestand ansonsten aus Roggen- und Maisschrot, Kartoffeln, Reis, Heidelbeeren und sehr wenig gesalzenem Schweinefleisch. Sein Süßstoff war selbstabgezapfter Ahornsirup.

Einige Skeptiker glaubten nicht, daß er allein von Pflanzenkost leben könne. Thoreau stieß die Fragesteller vor das Brett ihres Kopfes: Er könne von Bretternägeln leben. Ein Farmer hielt ihm vor, die Pflanzenkost tue nichts für den Knochenbau, »und während er mir alles erklärt, läuft er hinter seinen Ochsen her, die mit ihren vegetarisch aufgebauten Knochen ihn mitsamt seinem rumpelnden Pflug über alle Hindernisse hinwegziehen.«

Einfachheit! Einfachheit! Einfachheit! so Thoreaus Devise, mit diesem Ausruf gleichzeitig beweisend, daß manchmal das Einfache dreifach gesagt werden muß, um es neu zur Geltung zu bringen.

In Thoreaus Hütte gab es drei Stühle, »einen für die Einsamkeit, zwei für die Freundschaft, drei für Gesellschaft.« Und dies der Rest seiner Einrichtung: Bett, Tisch, Pult, Spiegel, Feuerzange, Topf, Kessel, Pfanne, Schöpflöffel, Waschschüssel, zwei Messer und Gabeln, drei Teller, ein Becher, ein Löffel, ein Sirup- und ein Ölkrug, eine lackierte japanische Lampe. Diogenes warf sogar, als er einen Knaben aus der hohlen Hand trinken sah, seinen Becher fort, schreibt Thoreau in sein Tagebuch.

Mit jeder Verringerung der Bedürfnisse sah er das Maß seiner Freiheit wachsen. Er kehrte dem bürgerlichen Dasein den Rücken, nicht um Buße zu tun und sich auf ein besseres Jenseits vorzubereiten; im Unterschied zu Schopenhauer, zu fernöstlichen Weisheitslehren - und wie gerne las er die erhabenen Gesänge der Bhagavadgita -, liebte er ja dieses Leben, hätte er bedauert, nicht geboren zu sein, nicht an den Feiern der Natur, an ihren ewigen Sonntagen teilgenommen zu haben. Hier am Waldensee war ihm der »Trank unverdünnter Morgenluft« vergönnt, träumte der stille Genießer manchmal bis weit in den Mittag auf der sonnigen Türschwelle inmitten von Kiefern, Hickory- und Sumachbäumen, labte er sich an köstlichen Abenden, wenn sein Körper »Wonne saugt durch jede Pore« und das Echo seines Flötenspiels ihn in das Glück der Kindheit zurücktrug, sein gegenwärtiges vervielfältigend.

Idyllische Töne, gewiß - aber Walden ist alles andere als ein Poesiealbum mit Glanzbildern. Die Verhältnisse, sie sind nicht so, das wußte auch Concords »only man of leisure«, Concords einziger Müßiggänger. Aus der Distanz seiner Hütte heraus kritisierte er die Eitelkeit der Menschen und ihren krankhaften Ehrgeiz, mit dem sie Paläste bauten, Pyramiden und Großbanken, um »ihr Andenken durch einen Haufen behauener Steine zu verewigen.« Krieg solchen Palästen! Friede den Hütten!

Dabei ließ Thoreau weder die Großkopfigen, die Wichtigtuer dieser Welt ungeschoren, die Pharaonen da oben, die Päpste und Präsidenten, noch die Selbstausbeuter da unten, die bereit sind, sich selbst lebendig zu begraben, und sich in finanzielle und moralische Zwangsjacken stecken lassen. Wie Diogenes in seiner Tonne war Thoreau niemandem Untertan, gehorsam einzig dem Eigensinn.

Gegenüber selbsternannten prophetischen Reformern und Erlösern war er mißtrauisch - die wollten nur ihre eigenen Übel kurieren und hätten »die Menschen mehr in ihrer Angst getröstet als in ihrer Hoffnung bestärkt. «Die Misere vieler Leute, die elende Lage der irischen Eisenbahnarbeiter, die für einen Hungerlohn sechzehn Stunden am Tag schufteten und in »Schweineställen« (Thoreau) hausten, sei nicht mit Güte und Almosen zu ändern. Thoreau setzte auf die Selbstheilkräfte, auf Eigeninitiative. Falls die »guten Onkel und Tanten des Menschengeschlechts« ihn aufsuchen sollten, um ihm eine Wohltat zu erweisen, würde er davonlaufen, so schnell ihn seine Füße trügen.

Wenn Thoreau mit asketischen Lebensformen experimentierte, so weniger, um nachzuweisen, daß er für seinen gesamten Aufenthalt nur ein paar lächerliche Dollar benötigte - akribisch führte er bis auf den letzten Cent darüber Buch, die herrschenden materiellen, geldzentrierten Wertmaßstäbe damit ad absurdum führend. Keineswegs verschwieg er in seiner Endabrechnung das entstandene Defizit (25 Dollar, 21 3/4 Cent), den ökonomischen Erfolg hatte er nicht vorrangig angestrebt. Vielmehr sollte sein Lebendversuch ihm helfen, sich drastisch weniger von außen, von anderen versorgen zu lassen. Vor allem aber wollte er Selbst-Erkenntnis, Geistesgegenwart und existentielle Wachheit steigern und weit die Flügel seiner Seele ausspannen. Indem er unter primitiven Bedingungen ein Leben aus den Wurzeln führte, wuchs in ihm ein neues Gefühl der Zusammengehörigkeit mit Pflanzen und Tieren, das Kriegshandlungen gegen die Natur nur in Ausnahmesituationen gestattete. Ironisch schreibt der Bohnenexperte Thoreau hierzu:

»Ein langer Krieg, nicht mit Kranichen, sondern Unkräutern, jenen Trojanern, die Sonne, Regen und Tau auf ihrer Seite hatten. Täglich sahen die Bohnen, wie ich ihnen mit der Hacke zu Hilfe kam und die Reihen ihrer Feinde lichtete, so daß sich die Gräben mit Unkrautleichen füllten. Manch kampfesfroher, helmbuschumflatterter Hektor, der seine ihn umdrängenden Kampfgenossen um einen ganzen Fuß überragte, fiel durch meine Waffe und sank in den Staub.«

Walden ist voller Heiterkeit! Kein vergeistigter Trauerkloß palavert hier, sondern ein Satiriker, der den jämmerlichen Unverstand von Menschen an eigenen verbliebenen Torheiten bloßstellt. Nicht zurück zur Natur will er, wie Rousseau, sondern zurück zur Unabhängigkeit. Diese ist dann aber auch der Natur selbst zurückzugeben!

In unserem Jahrhundert fordert der alternative amerikanische Denker und Dichter Gary Snyder: »Wir sollten unsere Ernten zu einem bestimmten Prozentsatz mit Insekten teilen, wie ›Steuer zahlen‹, und zitiert dann Thoreau:

»Wie kann die Ernte schlecht werden? Soll ich mich nicht freuen über den Überfluß an Unkraut, dessen Samen die Kornkammern der Vögel sind? Es kommt nicht darauf an, ob die Felder die Scheunen des Bauern füllen. Der wahre Landmann wird sich nicht sorgen, wie auch das Eichhörnchen sich nicht bekümmert, ob die Bäume in diesem Jahr Kastanien tragen oder nicht, und er wird alle Tage seine Arbeit beenden, indem er jeden Anspruch auf den Ertrag aus seinen Feldern aufgibt, und im Geiste nicht nur seine ersten, sondern auch die letzten Früchte als Opfer darbringen.«

Seinen Lebensraum mit den Tieren zu teilen verstand sich für Thoreau von selbst. Liebe Gäste waren ihm auch die Kinder; »wie ein Windhauch« wurden sie aus dem Ort zu ihm herausgetrieben, um seinen Naturerzählungen zu lauschen. Mit großen Augen verfolgten sie, wie, auf sein Flötenspiel hin, ein zweiter Hüttenbewohner auftauchte: eine putzige Maus, die an ihm herumkrabbelte; und auch die Eichhörnchen kamen herbei, von seinem Summton angelockt, und fraßen ihm aus der Hand. Henry war ein Siedler, kein Einsiedler.

An einem Oktobernachmittag ruderte er einmal am Ufer entlang, als er plötzlich das Lachen des Eistauchers vernahm. Thoreau verfolgte ihn, wollte näher an ihn herankommen, aber immer wieder tauchte der Vogel unter, um an unerwarteter Stelle den menschlichen Späher mit seinem unheimlichen Gelächter zu verspotten, »wohl der wildeste Schrei, der je in der Gegend hier vernommen wurde... Ich schloß daraus, daß der Vogel im Vertrauen auf seine eigenen Kräfte meine Anstrengungen verlachte.«

Thoreau - wie Diogenes - scheint mir solch ein fröhlicher Spottvogel zu sein, sicher seiner eigenen Kräfte, von keinem Weltherrscher, keinem Wohltäter abhängig.

Oft sagten die Leute zu ihm: »Sie müssen sich doch einsam fühlen hier draußen und sehnen sich gewiß, wenn es regnet oder schneit, und besonders nachts, näher zu Menschen!« Tatsächlich, in den ersten Wochen hatte Thoreau leichte soziale Entzugserscheinungen, um aber schon bald die Früchte dieser Abstinenz zu ernten: Seine »Rendezvous« mit Bäumen, die »unendlichen, unerklärlichen« Freundschaftsbekundungen der kleinsten Tannennadel, eines jeden Regentropfens ließen ihn die vermeintlichen Vorteile menschlicher Nähe vergessen. Ja, jetzt erkannte er, daß er sich einsamer fühlte, wenn er sich unter die Menschen begab, als wenn er in seinem Zimmer blieb. Die Unfähigkeit, »in Ruhe in einem Zimmer zu bleiben«, hatte schon Blaise Pascal als die Ursache allen Unglücks der Menschen gebrandmarkt. »Der Mensch, der denkt oder arbeitet, ist immer allein« - aber einsam?

»Ich bin nicht einsamer als der Eistaucher, der so laut lacht auf dem See, oder als der Waldenteich selbst. Bitte, was für Gesellschaft hat denn dieser einsame See? Und doch sind keine blauen Teufel, sondern blaue Engel im Azur seiner Wasser. Die Sonne ist allein, außer bei nebeltrübem Wetter, wenn es bisweilen zwei Sonnen zu geben scheint, aber eine davon ist ein Trugbild. Gott ist allein - dem Teufel dagegen liegt das Alleinsein fern; er hat Gesellschaft die Fülle: er zählt Legionen. Ich bin nicht einsamer als eine einzelne Königskerze oder der Löwenzahn auf der Weide, als ein Bohnenblatt oder der Sauerampfer, als eine Bremse oder Hummel. Ich bin nicht einsamer als der Mühlbach, der Wetterhahn oder der Polarstern, als der Südwind oder ein Aprilschauer, als Tauwetter im Januar oder die erste Spinne in einem neuen Haus.«

Auch tiefer Winter konnte seine Behaglichkeit nicht beeinträchtigen, denn der in zwei Stunden in einen Hang gegrabene Keller enthielt Kartoffelvorräte, vor dem Fenster lagerten Holzstapel, die er liebevoll betrachtete, der mit Backsteinen aus zweiter Hand erbaute offene Kamin rauchte. Innen war die Hütte mittlerweile verputzt - Henry hatte hierfür den feinen Ufersand des Waldensees herbeigeschafft - und außen mit Schindeln beschlagen: mithin keine Bruchbude, bei aller Bescheidenheit keine spartanische Zelle, bloß um zu überleben - sondern ein Traumhaus, wo er »vertrauensvoll in Richtung seiner Träume zur Freiheit einer höheren Ordnung« gelangte, wie es in seiner Schlußbetrachtung heißt.

Im Hinblick auf transzendentale Ziele war Thoreau unbescheiden, ja vermessen - und dennoch demütig zugleich. Sein schönes Wintergedicht Smoke erfleht denn auch die himmlische Nachsicht:

»Ikarischer Vogel: leichtbeschwingter Rauch,

du schmilzt die Flügel dir im Aufwärtsflug,

versprichst den Morgen, Lerche ohne Lied,

kreist über den Hütten wie um dein Nest;

oder auch schwindender Mitternachtstraum,

Schattengestalt, die ihre Schleier rafft,

verhüllst die Sterne nachts, den Tag

in dunkles Licht, löschst aus den Sonnenschein.

Empor, mein Weihrauch, steig von diesem Herd:

Verzeiht der Flamme, Götter, dieses Hell.«

Wintergäste waren nicht eben zahlreich; lediglich die Maulwürfe nisteten in seinem Keller und nagten »an jeder dritten Kartoffel«. Irische Arbeiter, die das Eis des Waldensees in Blöcke schnitten, damit es für gutes Geld in die Südstaaten verkauft würde, fielen gelegentlich ins Wasser und wärmten sich an Thoreaus Herd. Der Hausherr beklagte den Eingriff in die Natur, der dem Waldensee seinen Rock, ja seine Haut raubte! Aber, so Thoreau mit Genugtuung, unsachgemäße Lagerung ließ die Eistonnenberge wieder in den See zurückschmelzen. Auch die besten Freunde, Alcott und Channing, drängte es an Thoreaus Feuer, durch Schnee, Regen und Dunkelheit schlugen sie sich zu ihm durch, und bei einer dünnen Gemüsesuppe entstanden »brandneue Lebenstheorien«.

Aber nicht immer war mit ihm gut Bohnen essen. Am liebsten war er allein im Freien, verzichtete auf die Gesellschaft von Leuten, die »mit Ideen kamen, statt mit Beinen«.

Thoreau war stets unterwegs, ein Fuß-, Müßig-, Einzelgänger, und hierfür brauchte er einen breiten Rand im Leben. So wie Banausen den breiten Rand in Büchern der Poesie als Platzvergeudung anprangern, so verachten die mit praktischer Vernunft ausgestatteten seriösen Bürger Individuen à la Thoreau als Faulenzer, Traumtänzer, Parasiten. Geschäftstüchtige Einäugigkeit läßt den Wert »beschaulicher« Lebensführung, von Stille, erfülltem Schweigen und Kontemplation nicht erkennen.

Die Randfigur Thoreau, kein Ex-Zentriker, sondern ein Mensch, der aus eigener Persönlichkeitsmitte heraus lebte, bewies (sich selbst), wie Zeit und Freiheit und Licht für die Seele zu gewinnen waren.

Muße - das war für Thoreau unbekümmerte, verschwenderische, liebevolle Aufmerksamkeit für die Natur; ihre »kristallisierte Güte« faszinierte ihn immer wieder neu, mit seinen fünf Sinnen öffneten sich ihm die Fenster zum Unsichtbaren. Für den Transzendentalisten offenbarte sich in den Naturerscheinungen Gott selbst, »wehte der Morgenwind immerdar, das Gedicht der Schöpfung kennt keine Unterbrechung, aber nur wenige haben Ohren, um zu hören.«

Diese göttliche Sprache versteht nur, wer zur Selbsterforschung bereit ist und die Natur als spirituelle Botschafterin anerkennt. Thoreau folgte Emersons Interpretation, daß die alte Maxime »Erkenne dich selbst!« und die moderne Forderung »Erforsche die Natur!« zu ein und demselben Gebot geworden sei.

»Ein See ist der schönste, ausdrucksvollste Schmuck einer Landschaft. Er ist das Auge der Erde, wer hineinschaut, ermißt die Tiefe seines eigenen Wesens.«

Die Fähigkeit, stehenzubleiben und zu staunen, das Lebenstempo zu verlangsamen, im Hier und Jetzt bewußt dazusein: von Emerson hierin theoretisch unterwiesen, aus indischen Quellen philosophisch gespeist, hat Thoreau am Waldensee wirklich so gelebt. Mit Urvertrauen zur Mutter Natur. Und es schmerzte ihn, mitansehen zu müssen, wie die moralische Zerrüttung der Menschen sie dazu führte, die Würde der Natur anzutasten, die Wälder abzuholzen und gigantische Bohnenfelder anzulegen; deswegen wollte er im zweiten Jahr lieber Saatgut wie »Aufrichtigkeit, Einfachheit, Vertrauen« ausstreuen...

Aber er nannte auch die Gegner, die Ursachen beim Namen - eine ökologische Attacke, die heute ungemein berechtigter klingt:

»Aus Gier und Selbstsucht und der üblen Angewohnheit, den Boden als Besitz anzusehen oder in erster Linie als Mittel, um Besitztümer zu erlangen, ist die Landschaft entstellt, der Ackerbau denaturiert wie wir selbst, und der Landwirt führt ein Leben der niedrigsten Art. Er kennt die Natur nur als Räuber.«

Thoreau dagegen, auf seinem Weg der Selbsterfahrung und Selbstläuterung, erkannte die Erde - in indianischer und indischer Tradition - als Heiligtum, als Tabubereich, den man nicht ungestraft verletzt. War er aber selbst ein Heiliger?

Einiges spricht dafür: die bedürfnislose, zölibatäre Lebensweise, das Streben nach Vollkommenheit, die konstruktive, positive Gestimmtheit, die meditative Begabung mit Augenblicken ekstatischer Erleuchtung, das Denken mit dem Herzen, dabei »das Ganze« im Auge behaltend, sein Selbstverständnis als Bote des Göttlichen, seine objektive Funktion als irritierendes Vorbild.

Als Teilhaber an der kosmischen »Allseele« (so der transzendentalistische Begriff) lehnte Thoreau jeden religiösen Stellvertreter ab. Die offiziellen Kirchen mit ihren starren Dogmen und Zeremonien waren ihm zuwider. Das Christentum mochte er nicht als alleinseligmachend anerkennen. Dagegen konnte ihm der Hochwald zur Kathedrale werden, ein redlicher Mensch zum Priester, das fernöstliche Weisheitsbuch zur Bibel. Thoreau war als Mystiker bestrebt, sich seines eigenen göttlichen Wesenskerns zu vergewissern und den Nebel, den Schleier von künstlichen Ordnungen und Begriffen zu durchdringen, um etwas vom Geist des Schöpfers zu erfahren. Er glaubte an das innere Wachstum der Seele, »an die Nacht, in der das Korn wächst«.

Auswärtigen erzählte man in Concord, es gebe hier drei religiöse Gruppen: die Unitarier, die Orthodoxen und die Waldensee-Gesellschaft. Mit der letzteren waren die transzendentalen Ausflügler gemeint, Naturliebhaber und Gut-Gläubige; und Thoreau war ihr Hohepriester, der am Waldenteich als Seel- und Seesorger wirkte. In der Gewißheit auf überpersönliche Unsterblichkeit fürchtete er weder den Stachel des Todes noch den Sieg einer Hölle. Im engen christlichen Sinn droht Thoreau keine Heiligsprechung.

Ironisch, bissig, fähig zu Wandlungen und mit der Lust zum Widerspruch selbst gegen Jesus provozierte Thoreau Kritik sogar von Menschen, die ihm wohlgesinnt waren. Viele wollten ihn in eine Rolle zwingen, in eine Lebensaufgabe (im doppelten Sinn des Wortes): So sah die im Elternhaus lebende bürgerlich-handfeste Tante Maria ihren Neffen hilflos, von Gott, von allen guten Geistern verlassen im Leben dahintrudeln - aber auch Emerson, der Olympier, der Geistesheros seiner Zeit, mußte enttäuscht sein, hatte er doch in Thoreau große Hoffnungen »investiert«, die sich nicht erfüllten. War Thoreau eine verkrachte Existenz?

»Er zündete bei Tage ein Licht an und sagte: ›Ich suche einen Menschen‹, heißt es von Diogenes. Henry David Thoreau wäre ihm aufgefallen.

Thoreau, der selbstgenügsame Individualist, versteckte sich keineswegs, aber er buhlte auch nicht um öffentliche Anerkennung, ja, er lehnte brüsk jede Verantwortung für etwaige Nachahmer ab.

»Ein junger Mann aus meinem Bekanntenkreis, der einige Hektar Land geerbt hat, sagte mir, er würde gerne so leben wie ich, ›wenn er die Mittel dazu hätte.‹ Ich möchte aber nicht, daß irgend jemand meine Lebensart wie auch immer übernimmt, denn abgesehen davon, daß ich, bevor er sie wirklich erlernt hat, vielleicht eine andere gefunden habe, wünsche ich, daß es soviel verschiedene Menschen als möglich auf der Welt gebe; ein jeglicher sehe nur sorgfältig darauf, seinen eigenen Weg zu finden und zu gehen und nicht statt dessen den seines Vaters, seiner Mutter oder seines Nachbarn.«

To find out his own way: Diese Kernaussage Thoreaus muß jeder für sich selbst übersetzen, denke ich.

Am 6. September 1847 verließ Thoreau seine Hütte am Waldensee; zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage, nachdem er sein Experiment begonnen hatte, brach er es einfach ab.

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