Lauftext

Quer durch die Worte kommen Reste von Licht. (Franz Kafka)

Liebe Sabrina S.,

für morgen wünsche ich Ihnen alles, alles Gute! Sie sind bestens gewappnet und können als „Anwältin“ meines Gedichtes im ganzen wie auch im Detail die poetische Substanz gewiß überzeugend nachweisen. Werden Sie eigentlich auch aus unserer Korrespondenz zitieren?

Zu ihren Fragen:

Wenn die zweite Strophe als rhetorische Frage zu lesen ist, dann kann die Antwort nur Ja lauten, denn der in der ersten Strophe vorgestellte sensible, besorgte Zeitgenosse ist ein prädestinierter Lyrikleser – die Gedichte stärken sein seelisches Immunsystem, seine Widerstandskraft; Gedichte lesen: das ist natürlich nur eine Möglichkeit, ich hatte in einem früheren Brief ja auch andere geistig-seelische „Tankstellen“ genant: Kunst, Meditation, Musik, Gebet.

Außerdem kann das Gedicht nicht sich selber dementieren und sagen: Nein, lies mich nicht, ich bin überflüssig.

Andererseits:

Sie haben natürlich recht, man kann die zweite Strophe als echte Frage nehmen und den „Konsum“ schöngeistigen, sprachverliebten Schrifttums auch ablehnen. Und sagen: es gibt Wichtigeres (Spannenderes) zu lesen. Das geschieht ja auch faktisch; von den Schulen abgesehen, wo es vorgeschrieben ist, beschäftigt sich in Deutschland nur eine verschwindend kleine Minderheit mit Gedichten. Sie können es in Buchläden sehen, wo das Lyrikregal auf den ersten Blick nicht zu finden ist. Gedichte und andere schöne Künste als Flucht, als Droge, als Dekor, als Ablenkung, als (Selbst-)Täuschung, als ästhetisches Konfekt: ja, alles das läßt sich als Einwand gegen Gedichte u. ä. vorbringen. Aber unser Gespräch hat, denke ich. das Gegenteil gezeigt.

Übrigens, in einer engen Logik des konkreten Gedichts Klartext, ist durchaus eine mögliche Ablehnung der dunklen Gedichte angedeutet, nicht aber derer, die als Klartexte daherkommen … Welch eine Interpretationsspirale zum Ende unserer Vorbereitung.

Schreiende Mehrheit: Darin äußert sich die Skepsis vor dem sogenannten gesunden Volksempfinden, das z.B., wenn ein Kapitalverbrechen passiert, die Wiedereinführung der Todesstrafe fordert. Oder harmloser: Begeisterung für Schwachsinniges wie „Volksmusik“, Big brother, was weiß ich, Exzesse im Sport. Dahinter steht (bei mir) die Sorge vor der suggestiv verführten Volksmasse: Goebbels: Wollt ihr den totalen Krieg?

Schweigende Mehrheit: Hier passiert das Gegenteil: eine Minderheit (Rechts- oder Linksradikale) begeht Verbrechen, die Mehrheit ist zu feige, zu gleichgültig, zu bequem, sich dagegen sichtbar zu wehren, und schweigt lieber.

Auch ich schweige jetzt lieber und überlasse Ihnen das Wort.

Herzliche Grüße

Heiner Feldhoff

 

zurück